Geschichte der ­Kritischen Akademie

“Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung”, sagte der Historiker Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert. Dieser Satz hat nicht an Aktualität verloren, wie der nun folgende kleine Streifzug durch die Geschichte der Kritischen Akademie zeigt. Ausführliches zu dieser bewegten Zeit von den 60er Jahren bis heute mit ihren Höhen und Tiefen enthält das von der Historikerin Beate Naffin dokumentierte Buch mit dem Titel “Kritische Akademie: Hier werden keine Revolutionäre gemacht”.

Die Akademie als Ort der Bildung und Erholung trägt den Namen Kritische Akademie - ein Name, der zu Rückfragen und Auseinandersetzungen auffordert. Für den Paten und Namensgeber Waldemar von Knoeringen war der Name zunächst ein Arbeitstitel, der als Leitbegriff für die Konzeption der Akademie verstanden wurde und in einer konstruktiven und kreativen Weise gemeint war. Beeinflusst von den Theorien zum “Kritischen Rationalismus” und den “Kritischen Autoren” wurde versucht, Voraussetzungen zu beschreiben, um kritisches Bewusstsein bilden zu können. Kritisches Bewusstsein sollte zu Reflexionsvermögen befähigen, Konflikte bewältigen helfen, Denkprozesse anregen und vieles mehr.

In der Textilindustrie wurde mit den großen Arbeitskämpfen 1958 eine relativ streikreiche Periode beendet. Die Gewerkschaft Textil-Bekleidung (GTB) versuchte in den nun folgenden Jahren, neuartige Wege zu beschreiten.

Große Anstrengungen wurden gemacht, um ein besseres Verhältnis zwischen den Tarifvertragspartnern herbeizuführen. Mit Erfolg, denn durch das in den folgenden Jahren entstehende Vertrauensverhältnis zwischen dem Vorsitzenden der GTB, Karl Buschmann, dem Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Miederindustrie,

Karl-Heinz Koch und dem Triumph-Fabrikanten Dr. Herbert Braun, konnte ein Tarifvertrag abgeschlossen werden, der versuchte, neue Wege zu gehen und sachliche Formen der Zusammenarbeit zu finden. Der Tarifvertrag vom 27. Juni 1963 sah die Gründung des Vereins zur Berufs- und Lebenshilfe vor. Erstmals wurde es innerhalb der Textil- und Bekleidungsindustrie möglich, bei der Zumessung materieller Leistungen die Zugehörigkeit zur vertragsschließenden Gewerkschaft besonders zu berücksichtigen. Am 15. Dezember 1964 wurde die selbstständige Stiftung zur Förderung von Bildung und Erholung der Arbeitnehmer der Miederindustrie herausgelöst.

Der herausragende Satzungsauftrag der Stiftung ist die Aufgabe, die staatsbürgerliche und berufliche Bildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Miederindustrie zu fördern und die Erholung dieser Arbeitnehmer und ihrer Familien zu ermöglichen.

Um die Ziele der Stiftung einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, lud der pädagogische Ausschuss der Stiftung den erfahrenen Erwachsenenbildner Waldemar von Knoeringen zu einer Betriebsrätekonferenz nach Berlin ein, wo 1969 erstmals die Vorstellungen zu “Kritischen Akademien” als Stätten der Diskussion und Orientierung dargestellt wurden.

Die konkrete Verwirklichung dieser Ideen begann. In Inzell wurde 1972 ein Grundstück gekauft und der Architekt Hermann Joseph versuchte, das pädagogische Konzept in ein architektonisches Konzept zu übersetzen, was hervorragend gelungen ist. Vor dem Bau der Kritischen Akademie teilte die Miederstiftung das Schicksal moderner Nomaden, sie zog von einem Gasthaus zum anderen, um ihre Weiterbildungs- und Kurmaßnahmen absolvieren zu können.

Am 1. August 1974 wurde der Grundstein für den Bau der Kritischen Akademie in Inzell gelegt. Das Richtfest fiel 1975 mit dem zehnjährigen Bestehen der Stiftung zusammen, deren für die Bildungsarbeit Verantwortliche damit schon vor Eröffnung der Kritischen Akademie Erfahrungen in der politischen Erwachsenenbildungsarbeit gesammelt hatten. Dieses würdigte Bundeskanzler Helmut Schmidt anlässlich der Eröffnung der Kritischen Akademie am 17. Januar 1977 gleichermaßen wie die Tatsache, dass es zu dem umfangreichen Tarifwerk zwischen der Gewerkschaft Textil-Bekleidung und dem Arbeitgeberverband gekommen ist.

Die Kritische Akademie richtet sich mit ihrem Bildungsangebot an die Zielgruppe der Beschäftigten der Miederindustrie, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages von 1963 fallen, der zwischen der Gewerkschaft Textil-Bekleidung und der Arbeitsgemeinschaft der Miederindustrie abgeschlossen wurde. Die beiden Firmen Triumph International und TIGGES-Zours bilden heute die Arbeitsgemeinschaft der Miederindustrie.

In den sechziger Jahren beschäftigte die Triumph-International-Gruppe rund 14.400 Menschen, überwiegend Frauen in mehr als 60 Werken in Deutschland. Der seit 1970 in Deutschland andauernde Schrumpfungsprozess traf zu Beginn der 80er Jahre weitere Werke in Bayern und Baden-Württemberg. Die Gewerkschaft Textil-Bekleidung rief zum Protest auf, konnte aber die Werksschließungen und Verlagerungen in Billiglohnländer nicht verhindern.

Tiefgreifende gesellschaftliche Krisenerscheinungen waren Anfang der 80er Jahre sichtbar geworden. Die Bildungspolitik verlor angesichts des konjunkturellen Einbruchs zunehmend an Bedeutung gegenüber der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Die beginnende Massenarbeitslosigkeit wurde auch für die Verantwortlichen der Bildungsarbeit in der Kritischen Akademie zu einer Frage der Sicherung der eigenen Existenz. Mit unterschiedlichen Strategien wurde diesem Problem erfolgreich begegnet.

An der Kritischen Akademie kann von der gesellschaftspolitischen über die ökologische, kulturelle, soziale bis zur internationalen Bildung oder der Gesundheitsbildung aus einem umfangreichen Angebot gewählt werden. Nachdem in den 80er Jahren überwiegend die politische und die historisch-politische Bildung im Vordergrund stand, stellt insbesondere die berufliche Fort- und Weiterbildung im Bereich Computer und Arbeitswelt seit Mitte der 90er Jahre einen thematischen Schwerpunkt dar. Die für die Bildungsarbeit Verantwortlichen in der Kritischen Akademie versuchen heute, die klassische Zweiteilung (politische Bildung einerseits und berufliche Bildung andererseits) durch einen komplexeren Ansatz zu überwinden, in dem ein Bildungsmix dort angeboten wird, wo dies möglich ist.

Die Beschäftigungseinbrüche hinterließen auch in der Gewerkschaft Textil-Bekleidung deutliche Spuren und führten zu Mitgliederverlusten. Eine intensive Debatte über die Zukunft der Organisation und die damit notwendigen inneren Anpassungsprozesse begann. Zu Beginn des Jahres 1995 war die Gewerkschaft Textil-Bekleidung -Position deutlich. “Die Kooperation mit anderen Gewerkschaften ist unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt unserer Selbstständigkeit”. In den folgenden Jahren zeichnete sich dann jedoch eine breite Mehrheit für die Fusion mit der IG Metall ab. Teil des Integrationsvertrages der Gewerkschaft Textil-Bekleidung in die IG Metall war die Fortführung der Inzeller Kritischen Akademie. Die Vereinigung war Mitte 1998 abgeschlossen.

Gesellschaft und Wirtschaft befinden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem permanenten, sich beschleunigenden Wandel, der alle Lebensbereiche einschließt. Dieses hat weitreichende Konsequenzen für die Lernbereitschaft der Menschen. Der Beitrag der Bildung ist dabei vielfältig: Bildung trägt zur Sicherung bestehender und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei und verringert zugleich das Risiko, arbeitslos zu werden bzw. kann Zeiten der Arbeitslosigkeit verkürzen.

Wichtige Daten zur Geschichte der Kritischen Akademie

1963: Abschluss der Tarifvereinbarung über die Errichtung des Vereins Berufs- und Lebenshilfe. Der Tarifvertrag gilt für die ca. 14.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der deutschen Miederindustrie.

1964: Vereinbarung über die Gründung der Stiftung zur Förderung von Bildung und Erholung der Arbeitnehmer der Miederindustrie. Die Urkunde wird im Oktober 1965 durch den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Franz Meyers überreicht.

1974: Grundsteinlegung zum Bau der Kritischen Akademie, einer Einrichtung der Gewerkschaft Textil- Bekleidung durch deren Vorsitzenden Karl Buschmann. Trägerin der Kritischen Akademie ist die Stiftung.

1977: Eröffnung der Kritischen Akademie durch Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Beschäftigten der Miederindustrie erhalten eine moderne Stätte für Bildung und Erholung. In der deutschen Miederindustrie sind nur noch ca. 4.200 unter den Tarifvertrag fallende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. Von Anfang an stand die Kritische Akademie deshalb auch Gastbelegern offen.

1987: Die Kritische Akademie feiert ihr 10jähriges Jubiläum. Die Angebote zur politischen und zur beruflichen Bildung wurden positiv aufgenommen. Die Zahl der anspruchsberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer reduzierte sich weiter auf ca. 2.770 Beschäftigte.

1995: Die Kritische Akademie wird erweitert, 20 zusätzliche Einzelzimmer werden angebaut und ein PC-Raum wird eingerichtet, um den stärker nachgefragten beruflichen Weiterbildungsangeboten gerecht werden zu können.

1998: Mit der Integration der Gewerkschaft Textil-Bekleidung in die IG Metall ändert sich die Trägerschaft der Kritischen Akademie. Sie ist nun eine Einrichtung der IG Metall. Der Beschäftigtenabbau der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie hat auch Spuren in der Miederindustrie hinterlassen, in der noch ca.2.300 anspruchsberechtigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt sind.

1999: Beginn umfangreicher Modernisierungsarbeiten: Gästezimmer, Foyer, Seminarräume , Außenfassade, Balkone, Schwimmbad, medizinische Badeabteilung.

2002: Die Kritische Akademie feiert ihr 25jähriges Jubiläum.

2004: Die Tarifvereinbarung wird 40 Jahre alt.

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